Der Begriff der „Steigerung“ in der Goetheschen Metamorphosenlehre

Steigerung im Sinne Goethes wird jener Prozess genannt, bei welchem die schaffende Natur aus der gegenwärtigen Manifestation einer (sich zeitlich linear entwickelnden) Schöpfung, bzw. deren momentanen Stadium, das zugrunde liegende, den Reifungsprozess leitende Idealbild aus der Materie herausarbeitet!  Was das physische Auge am Organismus beobachten kann, scheint Goethe nur Konsequenz zu sein des lebendigen Ganzen durcheinander wirkender Bildungsgesetze, die nur dem Geist Schauenden sichtbar sind.

Das Zukunftsbild, die finale Persönlichkeit steckt laut Goethe folgerichtig bereits im Keim, im heranwachsenden Wesen als Wachstumsstruktur drinnen.

Von der Goethesche Metamorphosenlehre aus eröffnet sich dem Studierenden der zu Weg zu den geistigen Wesen, die schaffend hinter der Natur wirken, und er erkennt vieles der schöpferischer Kraft, was er für sich selbst in seine eigene Entwicklung integrieren kann.

Ziel der „Steigerung“ soll es vom Plane her sein, die dem Schöpfungsobjekt innewohnende Idee zur unmittelbaren Wahrheit werden zu lassen. – Dies auch was den eigenen Werdegang des menschen betrifft!

Steiner schreibt²: Die Steigerung kommt den Erscheinungen zu, insofern wir sie geistig denken. Sie kann beobachtet werden bei den Naturvorgängen, die unter die Idee der Entwicklung fallen. Auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung zeigen diese Vorgänge die ihnen zu Grunde liegende Idee mehr oder weniger deutlich in ihrer äußeren Erscheinung. In der Frucht ist die Idee der Pflanze, das vegetabilische Gesetz, nur undeutlich in der Erscheinung ausgeprägt. Die Idee, die der Geist erkennt, und die Wahrnehmung sind einander unähnlich. «In den Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung, und die Rose wäre nur wieder der Gipfel der Erscheinung.» In der Herausarbeitung des Geistigen aus dem Materiellen durch die schaffende Natur besteht das, was Goethe Steigerung nennt.

Die Natur ist «in immerstrebendem Aufsteigen» begriffen, heißt, sie sucht Gebilde zu schaffen, die, in aufsteigender Ordnung, die Ideen der Dinge auch in der äußeren Erscheinung immer mehr zur Darstellung bringen. ²

…Die höchste Anschauung ist die Anschauung der Ideenwelt!…

Wer den Augenblick der Selbstanschauung erlebt hat, denkt nicht mehr daran, hinter den Erscheinungen einen «verborgenen» Gott zu suchen: er ergreift das Göttliche in seinen verschiedenen Metamorphosen in der Natur….

Der schöpferische Geist der Natur tritt hier an die Oberfläche der Dinge; was an den grob-materiellen Erscheinungen nur dem Denken erfaßbar ist, was nur mit geistigen Augen geschaut werden kann: das wird in den gesteigerten dem leiblichen Auge sichtbar. Alles Sinnliche ist hier auch geistig und alles Geistige sinnlich. Durchgeistigt denkt sich Goethe die ganze Natur. Ihre Formen sind dadurch verschieden, daß der Geist in ihnen mehr oder weniger auch äußerlich sichtbar wird. Eine tote geistlose Materie kennt Goethe nicht. … Weil ein Geist in der Natur und im menschlichen Innern wirkt, deshalb kann der Mensch sich zur Teilnahme an den Produktionen der Natur erheben. D.h. der befreite menschliche Geist kann Ursache sein und gleichzeitig Beobachter, von dem, was er in der Aussenwelt erlebt

„Als Modifikationen des Geistes erscheinen Goethe alle Weltwirkungen, und der Mensch, der sich in sie vertieft und sie beobachtet von der Stufe des Zufälligen bis zu der des Genialen, durchlebt die Metamorphose des Geistes von der Gestalt, in der sich dieser in einer ihm unähnlichen äußeren Erscheinung darstellt, bis zu der, wo er in seiner ihm ureigensten Form erscheint.“

 Wenn die Empfindung von der großen Einheit alles Naturwirkens in ihm mächtig war, dann war er (Goethe) Pantheist. «Ich für mich kann, bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist als Naturforscher, und eines so entschieden als das andere. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt.» (An Jacobi, 6. Jan. 1813.) Als Künstler wandte sich Goethe an jene Naturerscheinungen, in denen die Idee in unmittelbarer Anschauung gegenwärtig ist. Das Einzelne erschien hier unmittelbar göttlich; die Welt als eine Vielheit göttlicher Individualitäten. Als Naturforscher mußte Goethe auch in den Erscheinungen, deren Idee nicht in ihrem individuellen Dasein sichtbar wird, die Kräfte der Natur verfolgen. Als Dichter konnte er sich bei der Vielheit des Göttlichen beruhigen; als Naturforscher mußte er die einheitlich wirkenden Naturideen suchen. «Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der größten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen, bringt das Objektiv-Schöne hervor, welches freilich würdige Subjekte finden muß, von denen es aufgefaßt wird.» Dieses Objektiv-Schöne im einzelnen Geschöpf will Goethe als Künstler anschauen; aber als Naturforscher will er «die Gesetze kennen, nach welchen die allgemeine Natur handeln will». Polytheismus ist die Denkweise, die in dem Einzelnen ein Geistiges sieht und verehrt; Pantheismus die andere, die den Geist des Ganzen erfaßt. Beide Denkweisen können nebeneinander bestehen; die eine oder die andere macht sich geltend, je nachdem der Blick auf das Naturganze gerichtet ist, das Leben und Folge ist aus einem Mittelpunkte, oder auf diejenigen Individuen, in denen die Natur in einer Form vereinigt, was sie in der Regel über ein ganzes Reich ausbreitet. Solche Formen entstehen, wenn z.B. die schöpferischen Naturkräfte nach «tausendfältigen Pflanzen», noch eine machen, worin «alle übrigen enthalten», oder «nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen»


Goethe macht einmal die Bemerkung: «Wer sie (meine Schriften) und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere Freiheit gewonnen.» (Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller, . Jan. 1831.) Damit hat er auf die wirkende Kraft hingedeutet, die sich in allem menschlichen Erkenntnisstreben geltend macht. Solange der Mensch dabei stehen bleibt, die Gegensätze um sich her wahrzunehmen und ihre Gesetze als ihnen eingepflanzte Prinzipien zu betrachten, von denen sie beherrscht werden, hat er das Gefühl, daß sie ihm als unbekannte Mächte gegenüberstehen, die auf ihn [84] wirken und ihm die Gedanken ihrer Gesetze aufdrängen. Er fühlt sich den Dingen gegenüber unfrei; er empfindet die Gesetzmäßigkeit der Natur als starre Notwendigkeit, der er sich zu fügen hat. Erst wenn der Mensch gewahr wird, daß die Naturkräfte nichts anderes sind als Formen desselben Geistes, der auch in ihm selbst wirkt, geht ihm die Einsicht auf, daß er der Freiheit teilhaftig ist. Die Naturgesetzlichkeit wird nur so lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde Gewalt ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern betätigt; man empfindet sich als produktiv mitwirkendes Element beim Werden und Wesen der Dinge. Man ist Du und Du mit aller Werdekraft. Man hat in sein eigenes Tun das aufgenommen, was man sonst nur als äußeren Antrieb empfindet. Dies ist der Befreiungs-Prozeß, den im Sinne der Goetheschen Weltanschauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die Ideen des Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den italienischen Kunstwerken entgegenblickten. Eine klare Empfindung hatte er auch von der befreienden Wirkung, die das Innehaben dieser Ideen auf den Menschen ausübt. Eine Folge dieser Empfindung ist seine Schilderung derjenigen Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister bezeichnet. «Die Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Sinne produktiv; indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen.» …
 

…Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der Ideenwelt. Der Mensch, der diese in sich selbst ruhende Tätigkeit anschaut, fühlt die Freiheit. …Sobald der Mensch zur Anschauung dieser Metamorphose gelangt, bewegt er sich sicher im Reich der Dinge. Er hat in dem Mittelpunkte seiner Persönlichkeit den wahren Ausgangspunkt für alle Weltbetrachtung gewonnen. Er wird nicht mehr nach unbekannten Gründen, nach außer ihm liegenden Ursachen der Dinge forschen; er weiß, daß das höchste Erlebnis, dessen er fähig ist, in der Selbstbetrachtung der eigenen Wesenheit besteht. Wer ganz durchdrungen ist von den Gefühlen, die dieses Erlebnis hervorruft, der wird die wahrsten Verhältnisse zu den Dingen gewinnen. Bei wem das nicht der Fall ist, der wird die höchste Form des Daseins anderswo suchen, und, da er sie in der Erfahrung nicht finden kann, in einem unbekannten Gebiet der Wirklichkeit vermuten. Seine Betrachtung der Dinge wird etwas Unsicheres bekommen; er wird sich bei der Beantwortung der Fragen, die ihm die Natur stellt, fortwährend auf ein Unerforschliches berufen.

Daß in Goethe ein Gefühl für die echte Natur des Sittlichen herrscht, welches sich nur nicht zur klaren Anschauung erhebt, zeigt folgender Ausspruch: «Der Wille muß, um vollkommen zu werden, sich im Sittlichen dem Gewissen, das nicht irrt ... fügen ... Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, mit ihm ist alles gegeben; es hat nur mit der innern eigenen Welt zu tun.»

 

… Mag der Mensch im einzelnen sich beschränkt fühlen, mag er auch von tausend Dingen abhängig sein; …. Das Wirksame aller übrigen Dinge kommt im Menschen als Idee zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die er selbst hervorbringt. In jeder einzelnen menschlichen Individualität vollzieht sich der Prozeß, der im Ganzen der Natur sich abspielt: die Schöpfung eines Tatsächlichen aus der Idee heraus. Und der Mensch selbst ist der Schöpfer. Denn auf dem Grunde seiner Persönlichkeit lebt die Idee, die sich selbst einen Inhalt gibt.

 

 Über Goethe hinausgehend, muß man seinen Satz erweitern, die Natur sei «in dem Reichtum der Schöpfung so groß, nach tausendfältigen Pflanzen eine zu machen, worin alle übrigen enthalten sind, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält, den Menschen». Die Natur ist in ihrer Schöpfung so groß, daß sie den Prozeß, durch den sie frei aus der Idee heraus alle Geschöpfe hervorbringt, in jedem Menschenindividuum wiederholt, indem die sittlichen Handlungen aus dem ideellen Grunde der Persönlichkeit entspringen.

Was der Mensch auch als objektiven Grund seines Handelns empfindet, es ist alles nur Umschreibung und zugleich Verkennung seiner eigenen Wesenheit. Sich selbst realisiert der Mensch in seinem sittlichen Handeln. In lapidaren Sätzen hat Max Stirner diese Erkenntnis in seiner Schrift «Der Einzige und sein Eigentum» ausgesprochen. «Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins. Stell' ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt.» Aber zugleich darf der Mensch zu diesem Stirnerschen Geist, wie Faust zu Mephistopheles sagen: «In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden», denn in meinem Innern wohnt in individueller Bildung die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All schafft. So lange der Mensch in sich diese Wirkungskraft nicht geschaut hat, wird er sich ihr gegenüber erscheinen wie Faust dem Erdgeist gegenüber. Sie wird ihm stets die Worte zurufen: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!» Erst die Anschauung des tiefsten Innenlebens zaubert diesen Geist hervor, der von sich sagt:
In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

² GA6-kap6

„Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,
Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte, stürzend, Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert,
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.

aus Goethes Faust

 

Religionsbezug Goethes zum Islam:

Goethe schrieb: Es ist wahr, was Gott im Koran sagt: Wir haben jedem Volk einen Propheten geschickt in seiner eigenen Sprache. Man soll den Geburtstag des Propheten ehren, den 20. April 570, und ganz besonders jene heilige Nacht, in der ihm der Koran von oben gebracht wurde.“ Goethe schrieb als junger Mann: „Ich möchte beten wie Moses im Koran: Herr, mache mir Raum in meiner engen Brust und mache mir leicht mein Geschäft und löse den Knoten in meiner Zunge.“

 Verse der 20. Sure fand er auch in der deutschen Übersetzung wunderbar. Er schrieb das Gedicht „Mahomets Gesang“, in dem er den Propheten als einen Fluss darstellt, der als kleiner Quell im Felsen beginnt und sich zum großen Strom entwickelt, alle anderen kleinen Bäche und Flüsse auf seinem Weg mit sich reißt und schließlich im Ozean mündet – ein Symbol für die Vereinigung mit Gott“

 

Mythological References of Stones fr.Heavens

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